Gedenken an den Massenmord
Veranstaltungsbericht: Massenmord, Genozid und Gedenken im Irak vom 29. Oktober 2024
„Als ich den Sand der Wüste mit dem Fuß etwas beiseite schob, kamen gleich die Knochen der Getöteten zutage…“ Hemn Goptapay
Im Oktober 2024 besuchte der kurdische Aktivist Hemn Goptapay auf Einladung der Hilfsorganisation Wadi e.V. und der Rosa-Luxemburg-Initiative – Rosa-Luxemburg-Stiftung Bremen verschiedene Orte in Deutschland (Bremen, Celle, Hamburg sowie München und Landshut; in Zusammenarbeit mit der VHS Celle sowie dem Internationalen Kurdischen Freundschaftsverein Landshut).
Hemn stammt aus dem kurdischen Gebiet des Irak und überlebte die sogenannte Anfal-Kampagne – eine systematische Vernichtungsaktion gegen die kurdische Bevölkerung durch das irakische Militär unter Saddam Hussein Ende der Achtziger Jahre. Während dieser Massenmorde wurden Tausende Kurd*innen getötet oder verschleppt. Seit Jahren widmet sich Hemn der Aufgabe, die Erinnerung an diese Geschehnisse lebendig zu halten. Dafür sammelt er in betroffenen Dörfern im Irak Dokumente, Fotos und Interviews mit Überlebenden und hat so ein bedeutendes Archiv aufgebaut. Ziel seines Besuchs in Deutschland ist es, Gedenkarbeit in Kurdistan durch den Austausch mit deutschen Initiativen weiterzuentwickeln.
Am 29. Oktober 2024 sprach Hemn Goptapay bei der Rosa-Luxemburg-Initiative im Kulturzentrum Kukoon in Bremen über den Massenmord im Irak und das Gedenken daran. Mit dabei: Oliver M. Piecha, Muhaned Karim (Übersetzung) und Norbert Schepers (Moderation). Am Vortag fand eine ähnliche Veranstaltung in der VHS Celle statt.
Oliver Piecha begann mit einer geographischen und zeitgeschichtlichen Einordnung der Anfal-Kampagne des Baath-Regime von Saddam Hussein, sowie einer Vorstellung der Organisation Wadi e.V., welche die Arbeit von Hemn unterstützt. Wer nicht ermordet wurde, wurde in den Süden Iraks deportiert oder in sogenannte „kollektive Lager“ gebracht, um dort unter Kontrolle gehalten zu werden. Im Zuge des Massenmords wurde Giftgas eingesetzt, maßgeblich auch mit Hilfe bestimmter westdeutscher Fabriken. Die Zahl der Opfer wird auf 60.000 bis 182.000 Menschen geschätzt. Die Baath-Diktatur schreckte sogar nicht davor zurück, mit der Erschießung von Minderheiten zu werben.
Auf die Einführung Olivers folgte Hemns Beitrag. Geboren wurde Hemn in einem kleinen Dorf namens Goptapa, welches zwei Mal von Saddam Husseins Armee bombardiert wurde. Bei den ersten Bombardements wurden 110 Menschen getötet sowie hunderte von Tieren. Hemn und seine Familie haben den ersten Angriff durch Zufall überlebt. Während die Männer in Straflager gebracht wurden, wurden Frauen und Kinder deportiert. Bis heute weiß man nicht was mit der Mehrheit der Menschen passierte, jedoch spricht wenig dafür, dass sie noch leben. Um den Opfern der Anfal-Kampagne zu gedenken, hat Hemn ein Archiv aufbereitet, mit dem langfristigen Ziel ein kleines Museum mit der Hilfe von Wadi e.V. aufzubauen. Im Zentrum bei seiner Erinnerungsarbeit stehen Fragen wie: Wie können diese Terrorerfahrungen erinnert werden? Welche Funktion hat Erinnerung und wie kann eine Erinnerung zu solchen Massenmorden organisiert werden? Als junger Mann träumte er davon, eine Bibliothek in Goptapa aufzubauen, was er schließlich mit Hilfe der Organisation Wadi und befreundeter Unterstützer verwirklichen konnte.
In seinem Vortrag beschreibt Hemn, wie Überreste der Bomben, die das Baath-Regime einst für Angriffe nutzte, bis heute in den betroffenen Gebieten zu finden sind. Er zeigte Bilder, auf denen beispielsweise Kinder zu sehen sind, die unwissend mit diesen gefährlichen Relikten spielen.
Am Ende der Vortrags fragte ein Teilnehmer, der wie Hemn Sorani sprach, nach seinen persönlichen Erinnerungen an die Vergangenheit. Hemn erzählte dabei von einem alten Foto, auf dem er zum ersten Mal das Bild seines Großvaters entdeckte – eine Erinnerung, die ihm bis heute wertvoll geblieben ist.
Gegen Ende der Veranstaltung berichtete Hemn davon, wie er das ehemalige Deportationslager in Südirak aufspürte und fotografisch dokumentierte. In diesem Lager wurden Menschen, darunter auch Kinder und Neugeborene, für mehr als sechs Monate gefangen gehalten. Beim Graben im Boden stieß er auf Knochen und Kleidungsstücke der Opfer und verbrachte Zeit mit den Angehörigen, die noch immer um ihre Liebsten trauern. Er erzählte von einer Frau, die bis heute hofft, dass ihr Mann und ihr Kind eines Tages ins Dorf zurückkehren werden. Der Wunsch, die dort liegenden Leichen nach Kurdistan zu überführen, wurde bislang von der irakischen Regierung ignoriert. Hemn beklagte auch, dass sowohl die irakische als auch die kurdische Regierung nicht genug tun, um der Opfer der Massaker des Saddam-Regimes angemessen zu gedenken.
Auf die abschließende Frage nach einer möglichen Digitalisierung seiner Arbeit antwortete Hemn, dass es sein langfristiges Ziel sei, sein Archiv auch digital zugänglich zu machen und die Geschichte so für künftige Generationen zu bewahren.
Seine Erfahrungen des Besuchs in Bremen fasste Hemn so zusammen: „Schon jetzt ist mir klar, dass wir in Kurdistan noch nicht zu spät sind, um gute Gedenkarbeit zu starten. Wir fangen viele Jahre eher an, als hier in Deutschland mit der Gedenkarbeit zu den Opfern des Nationalsozialismus angefangen wurde. Allgemein scheint es nie zu spät zu sein, um damit anzufangen.“
Bericht: Adriana Lamar Finkel, mit Ergänzungen von Richard Wilde und Norbert Schepers. Fotos: Adriana Lamar Finkel und Norbert Schepers
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