Samstag, 11. Juni 2011, KIOTO im Kulturzentrum Lagerhaus, Schildstr. 12-19, 28203 Bremen
Materialistische Staatskritik hat sich in den letzten Jahren einer bescheidenen Renaissance erfreut. So sind einige Klassiker wie die Werke von Eugen Paschukanis und Nicos Poulantzas erneut verlegt und Sammelbände zu staatstheoretischen Überlegungen von weiteren wichtigen Theoretikern wie Karl Marx und Antonio Gramsci veröffentlicht worden. Anknüpfend an die Diskussionen um diese materialistischen Theorien des Staates wird sich die Konferenz unter anderem mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Wie lässt sich das Verhältnis von Staat und weiteren gesellschaftlich relevanten Kategorien wie Geschlecht, Nation und Globalisierung begreifen? Wie vollzieht sich die staatliche Regulation von Migration und Krise? Welche Konsequenzen ergeben sich aus staatstheoretischen Überlegungen für eine emanzipatorische linke Praxis? Was sind die jeweiligen Möglichkeiten, aber auch Grenzen beispielsweise von Kämpfen um Rechte?
Die einzelnen Veranstaltungen werden in theoretische Diskussionen einführen und ihre zentralen Begriffe und Thesen vorstellen, aber auch historische und aktuelle Entwicklungen skizzieren. Die Konferenz möchte zu Diskussionen über die aktuellen Bedingungen einer Emanzipation von Zwangsverhältnissen, zu denen sich auch der Staat rechnen lässt, einladen. Denn soziale Bewegungen und Kämpfe sind in ihrer Praxis immer mit dem Staat konfrontiert, sei es dass sie Rechte einfordern oder sich autonom in „Distanz zum Staat“ (Nicos Poulantzas) organisieren, wie beispielsweise Besetzungsbewegungen oder unkontrollierte Migration. Doch da Unzufriedenheit und Wut alleine die Verhältnisse noch nie zum besseren verändert haben, bedarf es einer kritischen Analyse. Debatte und die „Arbeit des Begriffs“ im Sinne von Johannes Agnoli sind daher wichtige Voraussetzungen für eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse. Hoffnungen auf Patentrezepte und Lösungsangebote werden bei der Konferenz allerdings enttäuscht werden, denn die Intention der einzelnen Veranstaltungen ist vielmehr das Aufzeigen von Problemen und ihrer kritischen Erörterung. Es geht erst einmal um die gemeinsame Aneignung und Diskussion kritischen Wissens. Die Waffen der Kritik sollen also für aktuelle wie kommende gesellschaftliche Auseinandersetzungen geschärft werden …
Programm RLI_Staatskritik_Kongress als PDF
9.30 – 10.00 Konferenzbegrüßung
10.00 – 11.30
Oliver Barth (Bremen): Staat und Nation – Einführung in materialistische Verhältnisbestimmungen
Der moderne Nationenbegriff existiert erst seit der französischen Revolution, der Nationalismusbegriff war vor dieser unbekannt. Beide Begriffe verbreiteten sich mit Napoleon über Europa, mit dem Kolonialsystem über die ganze Welt und bildeten die Voraussetzung des zwanzigsten Jahrhunderts als „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Anfangs noch als Ausdruck einer Wahlgemeinschaft mit republikanisch-aufklärerischen Forderungen verwendet, wandelten sich die Begriffe Nation und Nationalismus rasch zur Rede von der Blutsgemeinschaft. Von den in ihren Namen geführten Kriegen und Ausschlüssen ist zweifellos noch heute „das Schicksal aller abhängig“, wie dies der Anarchist Rudolf Rocker nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ausdrückte. Undenkbar ist jedoch die Gliederung der Welt in Nationalstaaten ohne die Geschichte des Kapitalismus – ein Zusammenhang, den schon Karl Marx erkannte, ihn aber nicht mehr ausformulierte. Seither existieren unterschiedliche materialistische Bestimmungs-versuche des Verhältnisses Staat – Nation, die von der Kritischen Theorie, Staatsableitungsdebatte und Zivilgesellschaftstheorien bis hin zu Historikern wie Benedict Anderson und Eric Hobsbawn reichen.
Die Veranstaltung soll in diesen Zusammenhang einführen und Fragen aufgewerfen wie: Was eint den republikanischen und den völkischen Nationalismus, was unterscheidet sie? Sind nationale Mentalitäten kontinuierlich oder sind sie durch Wertverwertung in ständiger Umwälzung? Welche Auswirkungen haben Trends zu Einwanderungsgesellschaften und zur Internationalisierung von Staatlichkeit?
Oliver Barth promoviert an der Leibniz Universität Hannover und veröffentlicht unter anderem in jungle world und Phase2.
12.00 – 13.30
Nadja Rakowitz (Frankfurt am Main): Staat und Krise. Eine Einführung zu Keynes, Keynesianismus und marxistischer Keyneskritik
Krisen im Kapitalismus haben immer wieder Debatten um Krisenlösungsstrategien ausgelöst. Durch die aktuelle globale Krise erlebt gerade ein Theoretiker seine Renaissance, welcher sich infolge der Weltwirtschaftkrise Ende der 1920er als Ökonom einen Namen gemacht hatte: John Maynard Keynes. Obwohl Keynes seinerzeit die kapitalistischen Verhältnisse gegen den Sozialismus verteidigen wollte, galt und gilt er trotzdem vor allem in sozialdemokratischen Kreisen als Referenz für einen reformistischen Antikapitalismus. Besonders seine Vorstellung von Krisenlösung und Krisenvermeidung durch staatliche Regulation und Investition inspirierte linke Bemühungen um eine Harmonisierung kapitalistischer Widersprüche und daraus folgender Krisen. Die Überlegungen von Keynes und seinen Anhänger_innen provozierten aber auch massive Kritik: An der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie orientierte Einwände richteten sich einerseits gegen theoretische Defizite bei Keynes, andererseits gegen die politischen Konsequenzen seiner Überlegungen, etwa die Notwendigkeit eines starken und autoritären Staates sowie eines bürokratischen und technokratischen Politikstils. Zu kritisieren ist zum Beispiel die Vorstellung, dass der Kapitalismus generell krisenfrei funktionieren könne, aber auch die Keynessche Reduzierung der „Kapitalisten“ auf die „Rentiers“ und seine Hoffnung auf einen Kapitalismus ohne Zinsen und den „sanften Tod des Rentiers“.
Die Veranstaltung soll in die zentralen Thesen des Werkes von Keynes und des Keynesianismus einführen sowie eine Kritik an Keynes und Keynesianismus aus marxistischer Perspektive skizzieren.
Nadja Rakowitz (Frankfurt am Main) ist Soziologin, Mitglied der Marx-Gesellschaft und unter anderem Autorin des Buches „Einfache Warenproduktion. Ideal und Ideologie“, Freiburg 2000.
14.00 – 15.00 Mittagspause
15.00 – 16.30
Anita Fischer (Frankfurt am Main): Staat und Geschlecht. Eine Einführung in die zentralen Debatten
einer feministisch-gesellschaftstheoretischen Staatstheorie
Zentrale Widerspruchs- und Konfliktachse des staatskritischen „Malestreams“ ist die Reduktion des Staates auf den Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die Garantie allgemeiner Rechte. In dieser Verfasstheit wird der bürgerlich kapitalistische Nationalstaat als geschlechtsloser bzw. geschlechtsneutraler konzipiert. Die Interventionen von geschlechtertheoretischen bzw. feministischen Staatstheortiker_innen zielen zunächst darauf, das Geschlecht des Staates offenzulegen und die bestehenden Konzepte einer kritischen Revison zu unterwerfen. Dies hat spezifische empirische und theoretische Konsequenzen für eine geschlechtertheoretische Konzeptualisierung des Staates. Die Veranstaltung möchte daher in die verschiedenen marxistischen und feministischen Interpretationen des Zusammenhangs von Staat und Geschlechterverhältnissen einführen. Dabei sollen zentrale theoretische Überlegungen, wie beispielsweise zur Bedeutung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre diskutiert werden. Darüber hinaus gilt es die Potentiale und Grenzen einer Einforderung von Rechten wie Recht auf Scheidung, selbstbestimmte Reproduktion und Schutz vor Diskriminierung für die Konstitution des Staates zu erörtern.
Anita Fischer (Frankfurt am Main) promoviert im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt.
17.00 – 18.30
Bernd Kasparek (München): Staat und Migration
Migration ist kein neues Phänomen, doch insbesondere die kapitalistische Globalisierung hat zu einer quantitativen und qualitativen Veränderung von Migration geführt. Migrationsbewegungen fordern die europäischen Nationalstaaten in vielfacher Weise heraus, Konfrontationen finden in vielen Arenen statt: Staatsbürger_innenschaft, Integrationsimperative, die Praxis des border crossings; allgemein Fragen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. In Kombination mit der Herausbildung einer neuen Staatlichkeit in Europa ergeben sich so Prozesse, deren Ergebnisse noch offen sind.
Mit der Veranstaltung sollen die Herausbildung von neuen Akteur_innen und Institutionen der Migrationskontrolle in Europa sowie sich verschiebende Diskurse und Praktiken vorgestellt werden. Desweiteren werden die daraus resultierenden Probleme für antirassistische Praktiken erörtert und ihre Perspektiven im Kontext einer sich wandelnden europäischen Souveränität diskutiert. Ändern sich lediglich die Institutionen der Migrationskontrolle, oder auch deren Funktionsweise? Wie lassen sich in diesem Zusammenhang institutionelle Verselbständigungstendenzen wie Frontex bewerten? Welche Auswirkungen ergeben sich für das Staatsbürger_innenrecht?
Bernd Kasparek ist Mitglied der Karawane München und aktiv im Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung sowie Mitherausgeber von „Grenzregime – Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa„, Berlin 2010.
19.00 – 20.30
John Kannankulam (Marburg/Frankfurt am Main): Staat und Globalisierung aus materialistischer Perspektive
Die Debatte darum, ob als Folge der sogenannten “Globalisierung” der Nationalstaat verschwindet hat angesichts staatlicher Rettungsprogramme etc. im Zuge der Finanzkrise einigermaßen an Schwung und Relevanz verloren. Trotzdem sind die mit den Debatten um die Entstehung eines globalen “Empire” (Hardt/Negri) oder eines “Western Conglomerate of States” (Shaw) verbundenen Probleme nicht erledigt. Denn kaum eine_r würde bestreiten, dass sich seit der Krise des Fordimus in den 1970er Jahren die Nationalstaaten merklich gewandelt, sowie Inter- und Transnationalisierungsprozesse einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren haben.
Angesichts dieser Problemstellung will der Beitrag versuchen, einen knappen Überblick über die verschiedenen vorhandenen kritisch-materialistischen Positionen geben (mit Rekurs beispielsweise auf den sogenannten “Neo-Gramscianismus”, “Neo-Poulantzasianismus” und Hardt/Negri) und dabei deren Vorteile und kritisierbare Aspekte herausarbeiten. Davon ausgehend soll gezeigt werden, wie sich multiskalare und transnationale Kräfteverhältnisse im europäischen Kontext aus der Perspektive des “Staatsprojekt Europa” (www.staatsprojekt-europa.eu) empirisch operationalisieren lassen.
John Kannankulam ist Juniorprofessor für Politische Ökonomie und Europäische Integration an der Universität Marburg und neben Sonja Buckel und Jens Wissel Projektleiter des DFG-Projektes am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main mit dem Kurztitel “Staatsprojekt” Europa, das sich mit der Europäisierung der Migrationskontrollpolitiken in Europa befasst. Veröffentlichungen unter anderem: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Hamburg: VSA 2008; „Staat, Nation und Hegemonie“ (gem. mit Robin Mohan), in: Projektgruppe Nationalismuskritik (Hg.): Irrsinn der Normalität, Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot 2009.
Die Konferenz wird organisiert in Kooperation mit associazione delle talpe und mit Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg.
Die Teilnahme an der Konferenz ist kostenlos. Eine Anmeldung ist nicht notwendig. Für auswärtige Konferenzteilnehmer_innen wird versucht, Übernachtungsmöglichkeiten zu organisieren. Anmeldung von Übernachtungswünschen bitte an talpe(ätt)gmx.net.