Queer Theory ist derzeit unter Studierenden und anderen das neue heiße Theorie-Ding. Dies ist Grund genug, zwei neue Sammelbände zu würdigen. Der erste hier anzuzeigende entstand aus Referaten, die in einer Ringvorlesung im Wintersemester 2006/2007 an der Universität Frankfurt/Main gehalten wurden. Herausgeber Kraß stellt zu Beginn Definitionsversuche vor. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass das ursprünglich aus einem abwertenden Begriff entstandene queer positiv gewendet wurde und „jene Ideologie, die zur Diskriminierung von Schwulen, Lesben und andern sexuellen Minderheiten führt, der kritischen Analyse“ unterzieht. Im Zentrum jener Ideologie steht die Heteronormativität, die biologisch-naturalisierend Geschlecht und damit auch Begehren als binär konstruiert: Es gibt nur zwei Geschlechter. Diese „Geschlechter“ werden durch kollektive und individuelle Praxen immer wieder hergestellt und auch staatlich reguliert. Das eröffnet selbstverständlich die Möglichkeit, sie durch Kämpfe in und ausserhalb von sowie gegen Institutionen zu modifizieren.
Sabine Hark, die ebenso wie Antke Engel eine der prominenteren Autor_innen im Feld der Queer Theory ist, zeigt Komplexität und Grenzen des Konzeptes „Heteronormativität“ auf und arbeitet heraus, dass Wissenssysteme immer auch mit dem Begehren der sie Konstruierenden verbunden sind. Engel kritisiert in ihrem Beitrag die Interessenpolitik schwuler und lesbischer Verbände als Beitrag zu einer kulturell codierten neo-nationalistischen Versöhnung weißer wohlhabender Schwuler und Lesben mit Deutschland. Die weiteren zehn Beiträge thematisieren ein breites Spektrum. Hier reicht das Tableau von der Situation von Lesben, Schwulen und queers in der evangelischen Kirche über Gewalt und männliche Sexualität im Gefängnis bis zum zeitgenössischen Horrorfilm oder die queeren Aspekte der Oper.
Zum Stand der akademischen Etablierung erfährt die Leser_in trotz des etwas anspruchsvollen Buchtitels ausser der Bemerkung, „Queer Studies seien „noch kein eigenes Fach“, nichts, sie kann nur aus den Angaben zu den Autor_innen indirekt erschlossen werden. Diese zeigen an, dass die Autor_innen in ihren Disziplinen zwar queer forschen, aber jenseits marginaler Nischen von einer Existenz von Queer Studies im deutschen Wissenschaftsbetrieb nicht gesprochen werden kann.
„Verqueerte Verhältnisse“ ist eine Auswahl aus Beiträgen einer seit mehreren Jahren angebotenen Vortragsreihe an der Universität Hamburg. Das Goldstück dieses Bandes ist seine umfangreiche, mit einer Literaturliste versehene Einleitung, die zeigt, dass der Band vor allem von Herausgeber_innen konzipiert wurde, die am Rande der Universität angesiedelt sind. Zwei Themen stehen in der Einleitung im Fokus. Zum einen wiederum die Definition des Begriffes, der „Sexualität und Geschlecht in ihrer Verwobenheit mit anderen gesellschaftlichen Normensystem wie ‚Rasse‘, Ethnizität, Klasse, Behinderung oder Alter oder vor dem Hintergrund der derzeitigen kapitalistischen/neoliberalen Vergesellschaftung analysiert“. Zweitens die Tauglichkeit des Begriffes oder „Ansatzes“ für die Praxis. Hier stehen die Anhänger_innen der Queer Theory mitten in allen Doppeldeutigkeiten, welche die Institutionalisierung einer neuen Theorie mit sich bringt. Anschließend folgen zehn Beiträge zu den Themenbereichen Queer Studies und rassifizierende Machtverhältnisse, Ökonomiekritik, neoliberaler Kapitalismus und Reflektionen queerer Praxen. Die „Intersektionalität“ als neues, in etlichen Beiträegen aufscheinendes Paradigma verspricht neue Erkenntnisgewinne, da sie jene zitierte Verwobenheit ins Zentrum stellt und aus einer explizit herrschaftskritischen Perspektive heraus angreift. Die Intersektionalitätstheorie geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Diskriminierungen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit schafft. Die Pole solcher Diskriminierungen werden in der Theorie durch Differenzlinien oder „Achsen der Ungleichheit“ verbunden. Die Kategorien sind nicht nur soziale Platzanweiser, sondern generieren auch Identität. In der Intersektionalitätstheorie werden Positionen von „triple opression“ oder „Überdeterminierung“ konsequent weiter entwickelt und darauf hingewiesen, dass mehrere Differenzlinien betrachtet werden müssen und dass soziale Gruppen gemeinsame Differenzlinien besitzen, aber nicht homogen sind.
Das Problem der Queer Studies scheint nach Lektüre der beiden Bände zu sein, dass sie zwar wortgewaltige und zutreffende, aber relativ abstrakte Gesellschaftskritik, etwa zur Bedeutung kultureller Politiken für die Durchsetzung neoliberaler sozio-ökonomischer Transformationen und damit neue und spannende Perspektiven bietet. Gleichzeitig verliert sie sich dann oftmals in kleinteiligen Aspekten, also dort, wo es dem malestream nicht weh tut. Wenn queer die Anfechtung von Geschlechterregimen mitermöglicht, bleibt zu beachten, dass queer auch ein Beharren auf der Anerkennung von Differenz ist, und dies mitten in einem postfordistischen Kapitalismus, der Differenz zu einer seiner neuen Leitideologen gemacht hat. Das Bonmot der neuen Frauenbewegung „Frauen brauchen nicht mehr Männer, die solidarisch mit Frauen, sondern mehr Männer, die unsolidarisch mit anderen Männern sind“ könnte insofern erweitert werden: Heteronormativitätskritik müsste sich auch, wenn nicht sogar vorrangig, gegen die hegemonialen Männlichkeiten richten, die die Gesellschaft immer noch strukturieren. Es wäre wünschenswert, wenn die Theorie der Intersektionalität einen weiteren Hebel für emanzipatorische Perspektiven bieten würde.
Bernd Hüttner
Andreas Kraß (Hrsg.): Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung, Berlin 2009, Trafo Verlag, 264 S., 29,80 € , ISBN 978-3-89626-725-2. – AG Queer Studies (Hrsg): Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen; Hamburg 2009, Männerschwarm Verlag, 224 S., 16,00 € , ISBN 978-3-939542-40-7.
erschienen in Heft 2/2010 von FORUM Wissenschaft.