Aufruf für ein egalitäres Europa
Die Euro-Debatte geht weiter: Nicht zuletzt durch die Diskussion über die neue Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu den Ursachen der Eurokrise und möglichen Strategien zur ihrer Überwindung von Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas hat die u.a. durch Oskar Lafontaine angestoßene Debatte über eine Auflösung der Euro-Zone weitere Resonanz erhalten. Neben der Analyse der Lage und einer Prognose der weiteren Entwicklung steht vor allem die Frage nach den Konzepten zur Überwindung der Euro-Krise im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.
Karl Heinz Roth, Zissis Papadimitriou, Angelika Ebbinghaus und weitere haben soeben einen Aufruf für ein egalitäres Europa vorgelegt, um mit einer alternativen Konzeption für eine linke Strategie zu dieser Debatte beizutragen. Wir dokumentieren den Text im Folgenden; der Aufruf steht bei uns in zwei Sprachen zum Download bereit:
- Aufruf für ein egalitäres Europa (PDF, de, Stand 25.05.13)
- Proclamation for an Egalitarian Europe (PDF, en, Stand 24.05.13)
Rückmeldungen zu diesem Aufruf bitte an Karl Heinz Roth, per Mail an <khRoth@stiftung-sozialgeschichte.de>.
Update: Die Aufruf-Webseite www.egalitarian-europe.com und eine Mail-Adresse für UnterzeichnerInnen <info@egalitarian-europe.com> sind seit Anfang Juni online.
Aufruf für ein egalitäres Europa
Das Europa von heute wird durch Massenerwerbslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Enteignung und den fortschreitenden Abbau demokratischer Rechte verdüstert. Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise haben sich diese Tendenzen verstärkt. Sie sind durch die Austeritätsprogramme nochmals verschärft worden und haben die Ungleichgewichte zwischen der Kernzone und den Peripherieländern weiter vergrößert. Die Euro-Zone und die Europäische Union drohen inzwischen auseinanderzubrechen.[1]
Was ist geschehen?
Die Ursachen dieser Misere reichen teilweise bis in die frühen 1970er Jahre zurück. Als die US-Administration zwischen 1971 und 1973 die Goldeinlösungspflicht des US-Dollars aufhob und das System von Bretton Woods liquidierte, löste sie weltweit eine „Große Inflation“ aus. Dieser Entwicklung wollten sich die Leitungsgremien der Europäischen Gemeinschaft entziehen. Sie führten einen Wechselkursverbund ein und erweiterten ihn 1979 zu einem „Europäischen Währungssystem“, wobei die D-Mark als faktische Leitwährung fungierte. Durch die Einführung fest aufeinander bezogener Wechselkurse sollte der auf dem deutsch-französischen Bündnis begründete europäische Integrationsprozess stabilisiert und eine währungspolitische Gegenposition zur globalen Hegemonialmacht USA aufgebaut werden.
Für diese strategischen Festlegungen mussten die unteren Klassen und Schichten der Mitgliedsländer einen hohen Preis zahlen. Da das neue Wechselkursregime nicht mit Aktivitäten zur Standardisierung der Arbeitsbedingungen, zur Harmonisierung der Sozial- und Wirtschaftspolitik und zum Umbau des politischen Systems in Richtung einer europäischen Föderation einherging, kam es zu gravierenden sozialen und regionalen Fehlentwicklungen. Die Zahlungsbilanzen gerieten aus dem Gleichgewicht. Die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft waren jedoch nur noch begrenzt in der Lage, ihre wechselseitigen Defizite und Überschüsse durch währungspolitische Maßnahmen auszugleichen. Infolgedessen gingen die wettbewerbsschwächeren Länder zu restriktiven sozial- und fiskalpolitischen Maßnahmen über. Die Ära des sozialen Keynesianismus wurde durch eine marktradikale Strategie der Lohnsenkungen, des Sozialabbaus und der Privatisierung der öffentlichen Güter abgelöst.
Nach dem Anschluss der DDR an die westdeutsche Bundesrepublik stieg Deutschland zur dominierenden europäischen Wirtschaftsnation auf. Ihre Herrschaftseliten unterliefen seither alle Initiativen der europäischen Partnerländer zur Wiederherstellung der Balance. Die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags zwangen alle Mitgliedsländer zu einer rigiden Budget- und Zinspolitik. Die im Jahr 1998 gegründete Europäische Zentralbank orientierte sich vollständig an der Deutschen Bundesbank und wurde wie diese zu einer restriktiven Geldmengen- und Preispolitik verpflichtet. Die kurze Zeit später eingeführte Einheitswährung machte die Europäische Union vollends zu einem Hartwährungsregime, das den wettbewerbsstarken Nationalökonomien der europäischen Kernzone extreme Vorteile zu Lasten der Peripherieländer verschaffte.
Unter diesen Rahmenbedingungen radikalisierte vor allem Deutschland seine schon seit den 1950er Jahren praktizierte neo-merkantilistische Orientierung. Es ging zu einer exportgetriebenen Niedriglohnpolitik über. Dem daraus resultierenden Exportpreis-Dumping hatten vor allem die Peripherieländer der Europäischen Union nichts entgegenzusetzen. Der Neo-Merkantilismus der um Deutschland gruppierten Kernländer führte zur Herausbildung struktureller Ungleichgewichte, die durch die restriktiven Rahmenbedingungen der EU-Verträge verstetigt wurden.
Durch die Weltwirtschaftskrise wurde diese Schieflage schonungslos offengelegt. Die Peripherieländer gerieten in eine schwere Depression, die bis heute anhält. In der Kernzone kam es dagegen zu einem kurzfristigen Stabilisierungsprozess, der inzwischen ebenfalls in eine Stagnation umgeschlagen ist. Auf diese negative makroökonomische Entwicklung reagierten die von Deutschland dominierten EU-Leitungsgremien mit krisenverschärfenden Maßnahmen. Sie intensivierten ihre Restriktionspolitik und zwangen den Peripherieländern zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds („Troika“) Austeritätsprogramme auf, die zum weiteren Anstieg der Massenerwerbslosigkeit, zu drastischen Verelendungsprozessen und zur Demoralisierung breiter Gesellschaftsschichten geführt haben. Die parallel zu den Spardiktaten gestarteten Stabilisierungsmaßnahmen (Europäischer Stabilitäts-Mechanismus usw.) haben hingegen die Funktion, die Ausbeutung der subalternen Klassen zugunsten der öffentlichen und privaten Gläubiger zu verstetigen. Durch eine einseitige Medienpropaganda werden die Symptome der Krise – insbesondere der Anstieg der Staatsschulden – zu Krisenursachen umgedeutet, um den radikalisierten Prozess der Umverteilung von unten nach oben zu rechtfertigen.
Wie konnte es geschehen?
Es stellt sich die Frage, wie es zu dieser katastrophalen Entwicklung kommen konnte. Wir sehen dafür im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze. Der erste besagt, dass der in den Ländern der Kernzone praktizierte Vorrang der exportorientierten und niedrigentlohnten neo-merkantilistischen Politik mit dem gleichzeitigen Aufstieg Europas zur imperialistischen Supermacht begründet wurde. Dabei war vor allem das strategische Zeitfenster von 1990/91 von entscheidender Bedeutung. Im Jahr 1990 kam es zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Dieses Ereignis stand noch stärker als die zeitgleichen Umbrüche in den ostmittel- und südosteuropäischen Ländern für den Untergang der Sowjetunion und des Blocks der RGW-Staaten. Bei dem sofortigen Vorstoß in das Machtvakuum spielten die Gremien der Europäischen Gemeinschaft zunächst nur eine Statistenrolle; die sofort einsetzenden marktradikalen „Schocktherapien“ wurden vor allem unter dem Einfluss der USA und Großbritanniens vorangetrieben. Danach aber kamen die EU-Leitungsgremien zum Zug: Im Gefolge der nun einsetzenden Ostexpansion brachten die führenden Finanzkonzerne und Großunternehmen der europäischen Kernzone das Terrain unter ihre Kontrolle.
Diese Entwicklung wiederholte sich im Verlauf der 1990er Jahre auf dem Balkan. In der Jugoslawischen Föderation hatten die durch die Weltwirtschaftskrise von 1973 bis 1982 extrem gesteigerten Ungleichgewichte zu massiven sozialen und politischen Konflikten geführt, die mehr und mehr in ethno-politische Sezessionsbewegungen und schließlich in einen grausamen Bürgerkrieg umschlugen. Dabei ergriffen Deutschland und Österreich die Partei der Sezessionisten und brachten alsbald auch die EU-Gremien hinter sich. Statt die dramatische Entwicklung durch neutrale Hilfsprogramme zu entschärfen, gossen sie Öl ins Feuer. Der anschließende NATO-Angriff auf Jugoslawien vom März 1999 beendete die europäische Nachkriegsphase und hinterließ eine Reihe ethnisch „gesäuberter“ Kleinstaaten. Nun konnte auch Südosteuropa in den Radius der Europäischen Union einbezogen werden. EU-Europa avancierte zu einer Supermacht mit „wandernden Grenzen“, die im Verlauf der 1990er Jahre immer stärker überwacht und abgedichtet wurden (Schengener Grenzregime), um Flüchtlinge und unerwünschte ArbeitsmigrantInnen auf Distanz zu halten.
Der zweite Erklärungsansatz bezieht sich auf Umbrüche innerhalb der institutionell-politischen Ebene, die den Übergang der EU-Mitgliedsländer zur deflationären Niedriglohnpolitik, zur Demontage der sozialen Sicherungssysteme und zur Unterwerfung der öffentlichen Güter unter die Verfügungsgewalt der Kapitalvermögensbesitzer bewirkt haben. Diese Entwicklung war letztlich nur deshalb möglich, weil sie auch von einem Parteienspektrum getragen wurde, das früher einmal zur Linken gehört hatte. Wichtige Strömungen der institutionellen Linken – die Sozialdemokratie, die Eurokommunisten und die Grünen Parteien – waren dabei involviert. Zuerst vollzogen die sozialdemokratischen Parteien Südeuropas den Kurswechsel vom sozialen Keynesianismus zu den Doktrinen einer marktradikalen Gesellschaftsformierung. Danach distanzierten sich die südeuropäischen Eurokommunisten von den Arbeiterkämpfen und Sozialbewegungen dieser Jahre und unterstützten die austeritätspolitische Konsolidierung ihrer jeweiligen Nationalökonomien. Ein knappes Jahrzehnt später vollzogen auch die aus den neuen Sozialbewegungen hervorgegangenen Grünen Parteien diese Kehrtwende. Zu Beginn des neuen Millenniums folgten schließlich auch die sozialdemokratischen Parteien der Kernzone – insbesondere die deutsche Sozialdemokratie und die dem Kurs Margaret Thatchers verpflichtete britische Labour Party – der neuen Generallinie des europäischen Wegs zur kapitalistischen Restrukturierung.
Diese marktradikale Restauration hatte verheerende soziale und politische Folgen. Da sie von der institutionellen Linken mitgetragen wurde, fügte sie dem gesellschaftskritischen Spektrum der europäischen Gesellschaften schwerwiegende Schäden zu, von denen es sich erst jetzt wieder zu erholen beginnt. Sie hatte zweitens zur Konsequenz, dass zwei Drittel der Gesellschaften der EU-Mitgliedsländer ihre politische Repräsentation innerhalb der indirekten Demokratie verloren; die repräsentativ-parlamentarischen Strukturen haben mitsamt ihren politischen Klassen ihre sozialen Legitimationsgrundlagen weitgehend eingebüßt. Drittens wurde es den konservativen Flügeln der herrschenden Eliten ermöglicht, sich als die „moderatere“ Variante des Herrschaftssystems zu präsentieren, da die ökonomische Restauration wesentlich vom ehemals linken Parteienspektrum mitgetragen wurde. Sie banden Teile der unteren Klassen durch populistische Inszenierungen an sich, soweit diese nicht gleich zu den hypernationalistisch-faschistischen Organisationen überliefen und ihnen einen teilweise beträchtlichen Massenanhang verschafften. Seither ist es innerhalb der politischen Institutionen schwierig geworden, auch nur annähernd plausibel zwischen „Links“ und „Rechts“ zu unterscheiden.
Was können wir tun?
Aufgrund der dramatischen Auswirkungen der Austeritätsprogramme auf die politischen Institutionen ist die Frage nach tragfähigen Alternativen dringlich geworden.
Zunächst ein kurzer Blick auf die Alternativdebatten, die seit der Durchsetzung der Austeritätsprogramme vor allem in den Peripherieländern der Euro-Zone stattgefunden haben. Dabei wurden vor allem drei Konzepte erörtert:
Erstens der alleinige Austritt der jeweiligen Nationalökonomie (Griechenland, Italien usw.) aus der Euro-Zone und der Europäischen Union, die Wiedereinführung der Nationalwährung, die Verstaatlichung der Banken und die Inangriffnahme eines nationalen Wideraufbauprogramms.
Zweitens der Stopp der Austeritätsprogramme, die Verkündung eines Schuldenmoratoriums, die Verstaatlichung des Finanzsektors und die Aufnahme von Verhandlungen über einen weitreichenden Schuldenschnitt ohne gleichzeitigen Austritt aus der Euro-Zone. Dieses Konzept wird vor allem von der griechischen Koalition der radikalen Linken (Syriza) vertreten.
Drittens der gemeinsame Austritt der mediterranen Mitgliedsländer der Euro-Zone, die Einführung einer neuen Blockwährung und der Ausbau der Süd-Zone in eine politisch fundierte Wirtschaftsunion.
Bei allen drei Vorschlägen bestehen unseres Erachtens gravierende Nachteile und erhebliche Gefahren. Ein alleiniger Austritt aus der Euro-Zone wäre eine „Schocktherapie von links“: Er würde aufgrund der internationalen Isolierung innerhalb kürzester Zeit zum ökonomischen Kollaps, zu Hungerkatastrophen und zum Rückfall in die Gruppe der Entwicklungsländer führen. Das Syriza-Konzept erscheint uns hingegen unrealistisch: Eine einzelne periphere Nationalökonomie vermag sich nicht gegen ein durch die Kernzone gedecktes Diktat der EU-Gremien durchzusetzen. Der Gang nach Canossa wäre unvermeidlich. Aber auch ein mediterraner EU-Block verfügt nach unserer Einschätzung nicht über das erforderliche ökonomisch-politische Potenzial, um sich mittelfristig gegen die internationale Isolierung und Konkurrenz zu behaupten.
Bezeichnenderweise gibt es derartige Optionen zur Krisenüberwindung auch in den Ländern der Kernzone. Sie werden dort aber von den nationalkonservativen Flügeln des Establishments vertreten. Die damit verfolgten Absichten sind konträr, aber die vorgeschlagenen währungspolitischen Maßnahmen sind spiegelbildlich.
Wie könnte im Gegensatz dazu eine glaubwürdige Perspektive aussehen? Sie sollte unseres Erachtens vier entscheidenden Anforderungen genügen. Sie sollte sich erstens am sozialen Massenwiderstand gegen die Übertragung der Krisenkosten auf die unteren Klassen orientieren, wie er sich in den letzten Jahren in vielen EU-Ländern entwickelt und konsolidiert hat. Sie sollte zweitens den materiellen Interessen aller Schichten der subalternen Klassen – arbeitende Klassen und untere Mittelschichten – gerecht werden. Sie sollte drittens entscheidende Umwälzungen für alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vorschlagen und mit Überlegungen zu einer föderativen Demokratisierung Europas verbinden. Und sie sollte viertens Verknüpfungen zu den weltweiten Sozialbewegungen herstellen, um die Ära der euro-zentristischen Machtpolitik zu beenden. Nur wenn diese vier Kriterien erfüllt sind, werden wir zu einer glaubwürdigen Alternative gelangen, welche die Blockaden des sozialen Widerstands aufhebt und eine radikale Kehrtwende in Gang bringt.
Im Folgenden skizzieren wir die Eckdaten eines möglichen Aktionsprogramms, das von den defensiven Zielstellungen des sozialen Massenwiderstands ausgeht, also den Stopp der Austeritätsprogramme, ein Schuldenmoratorium und erste Hilfsaktionen zur Behebung der grassierenden Massenverarmung voraussetzt.
(1) Maßnahmen zur Überwindung der binneneuropäischen Ungleichgewichte und der Euro-Krise: Sie setzen die grundlegende Demokratisierung und Umwandlung aller beteiligten Institutionen in loyale Instrumente der entstehenden Europäischen Föderation voraus, sodass ihre Operationen der Einflussnahme durch die Akteure des finanzialisierten Kapitalismus entzogen sind: Überführung aller öffentlichen und privaten Schulden oberhalb einer zu definierenden Verschuldungsquote in einen europäischen Tilgungsfonds zur Durchsetzung eines weit reichenden Schuldenschnitts zu Lasten der Gläubiger. Ausgabe einheitlicher Eurobonds. Umwandlung des Europäischen Stabilitäts-Mechanismus in ein föderatives Clearingsystem, in das Länder erhebliche Teile ihrer Zahlungsbilanzüberschüsse abführen. Nach der Umsetzung dieser Akutmaßnahmen werden die strukturellen binneneuropäischen Ungleichgewichte durch die im Folgenden skizzierten Eckdaten verschwinden, ohne dass zusätzliche Eingriffe erforderlich werden. Auch das derzeit so heiß umstrittene Problem der europäischen Einheitswährung verliert dadurch seine Bedeutung, weil diese zu einem reinen Verrechnungs- und Zahlungsmittel zurückgestutzt wird.
(2) Standardisierung der Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Arbeitsentgelte auf europäischer Ebene: Entschleunigung des Arbeitstempos und der Arbeitsrhythmen. Radikale Reduktion der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Zurücknahme der Spreizung der Lohn- und Gehaltsschere auf Proportionen von 1:10 und später 1:5 bei gleichzeitiger Anhebung der Mindestlöhne und dem Übergang zu linearen Lohnerhöhungen.
(3) Wiederherstellung der sozialen Sicherheit und Würde: Europaweite Durchsetzung einer allgemeinen Krankenversicherung, Aufstockung der Sozialhilfesätze und Altersrenten als erste Teilschritte. Davon ausgehend Entwicklung eines Systems der allgemeinen sozialen Grundsicherung, das in die kommunalen und regionalen Selbstverwaltungen integriert wird.
(4) Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten: Markante Anhebung der Kapitalsteuern, europaweite Wiedereinführung der Vermögensteuern, progressive Besteuerung der Erbschaften und Überführung millionenschwerer Erbschaften in kommunale Kultur- und Sozialfonds, markante Anhebung des oberen Drittels der Einkommensteuern und dauerhafte Etablierung einer Transaktionssteuer, die auf allen Kapitalmärkten erhoben wird.
(5) Verhinderung der Kapitalflucht und Sozialisierung der Investitionen: Einführung von Kapitalverkehrskontrollen in der ersten Umbruchsphase, Vergesellschaftung aller strategischen Schlüsselsektoren – Großbanken, Medienkonzerne, gesamtwirtschaftliche Schlüsselbereiche wie Informations- und Kommunikationstechnologie, Energieversorgung und Transportwesen – sowie aller multinational operierenden Unternehmen des Exportsektors. Anschließende Dezentralisierung und Regionalisierung der gesamten Wirtschaft zur Übernahme in gesellschaftliche Selbstverwaltung insbesondere auf kommunaler Ebene.
(6) Wiederaneignung der öffentlichen Güter: Vergesellschaftung aller Infrastruktur- und Versorgungsbetriebe auf der Ebene der Kommunen und Kommunalverbände, Kommunalisierung des Gesundheitsversorgung, der Krankenhäuser und des Bildungswesens. Vergesellschaftung des Internet, der digitalen Medien und aller wissenschaftlich-technischen Innovationen.
(7) Gleichheit der Geschlechter: Die in den vergangenen Jahrzehnten errungenen Erfolge der neuen Frauenbewegung sind seit Krisenbeginn durch die Zunahme männlicher Aggressivität, sexueller Ausbeutung und innerfamiliärer Gewalt bedroht. Entschiedene Maßnahmen sind deshalb geboten. Wir schlagen vor, diese zunächst auf die materielle und damit auch soziale Aufwertung jener Berufsfelder zu konzentrieren, in denen nach wie vor überwiegend Frauen tätig sind (unbezahlte und unterbezahlte Reproduktionsarbeit). Davon ausgehend sollte die Gleichstellung der Frauen auf allen Ebenen des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens durchgesetzt und unumkehrbar gemacht werden.
(8) Intensivierung der Umweltpolitik: Ersetzung der gescheiterten marktliberalen Regulierungsversuche (Emissionshandel usw.) durch die Einbeziehung aller ökologischen Folgekosten der Verwertung von Naturressourcen in die betriebs- und gesamtwirtschaftliche Kostenrechnung. Zusätzlich Beschleunigung des ökologischen Umbaus aller Produktions- und Reproduktionsprozesse, insbesondere in Landwirtschaft und Tierhaltung. Reduktion des Transportvolumens und Energieverbrauchs durch Entschleunigung und Regionalisierung.
(9) Liquidierung des Schengener Grenzregimes: Das Schengener Grenzregime ist unverzüglich zu liquidieren, seine paramilitärische Infrastruktur („Frontex“) und seine Datenbanksysteme sind aufzulösen. Parallel dazu sollten auch alle damit zusammenhängenden innereuropäischen Institutionen zur Diskriminierung und Abschreckung von Flüchtlings- und Migrationsbewegungen (Internierungslager, Beschränkung der Freizügigkeit usw.) aufgegeben werden.
Selbstverständlich benötigen die Eckpfeiler dieses Aktionsprogramms eine verbindende Klammer auf dem politischen Feld: Erst eine neue politische Verfassung vermittelt ihm die erforderliche Kohärenz. Dabei kommt unseres Erachtens nur ein post-nationalstaatlicher Ansatz in Frage. Er kann nicht aus den Strukturen der Europäischen Union entwickelt werden, weil diese eine hierarchisch koordinierte Gruppe von Nationalstaaten darstellt und über keine ausreichende gesellschaftliche Legitimation verfügt. Unser Modell orientiert sich dagegen an den Prinzipien der direkten Demokratie, welche die Defizite des parlamentarischen Parteiensystems überwindet und den Normen der universellen und sozialen Existenz- und Menschenrechte verpflichtet ist. Darüber hinaus muss dieses Modell der enormen, historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt des alten Kontinents Rechnung tragen. Wir schlagen deshalb das Projekt einer Föderativen Republik Europa vor, in die sich die bisherigen Mitgliedsstaaten auflösen. Sie wird basisdemokratisch verfasst sein und deshalb von unten nach oben aufgebaut werden. Dabei wären vier miteinander vernetzte Funktionsebenen zu unterscheiden: Kommunen und Kommunalverbände, Kantone, Regionen – Balkan, Ostmitteleuropa, Mittelmeerregion usw. – und die Föderation selbst. Auf diese vier Ebenen werden die öffentlichen Revenuen entsprechend ihrer Gewichtung verteilt. Dabei wäre die vorrangige Zuweisung der Ressourcen in die für die demokratische Selbstverwaltung besonders wichtigen unteren Funktionsebenen zu garantieren und zugleich sicherzustellen, dass die Föderation dauerhaft auf die Insignien klassisch imperialistischer und nationalstaatlicher Macht – Armee, militärisch-industrieller Komplex, aggressive Außenpolitik usw. – verzichten muss. Darüber hinaus sollte in der Föderationsverfassung ein generelles Abrüstungs- und Friedensgebot verankern werden.
Dieses Aktionsprogramm hat nur dann eine Chance, wenn es in die konkreten Lernprozesse des sozialen Widerstands sowie der sich entfaltenden Sektoren der alternativen Ökonomie eingeht und anhand der dort gemachten Erfahrungen fortlaufend korrigiert und weiter entwickelt wird. Dazu sind gesellschaftliche Initiativen erforderlich, die sich nicht an den politischen Parteien orientieren und auf jeglichen Avantgarde-Anspruch verzichten. Es sollte sich vielmehr um ein Netzwerk selbstbestimmt und selbstverantwortlich handelnder Initiativen handeln, die sich auf das Aktionsprogramm beziehen und in allen Regionen Europas eine Assoziation Egalitäres Europa begründen. Wir rufen die AktivistInnen des sozialen Widerstands, die ProtagonistInnen der Alternativökonomie, die linksoppositionellen Strömungen der Gewerkschaften und Parteien sowie die kritisch engagierten Intellektuellen Europas auf, diese Initiative mit Rat und Tat zu unterstützen.
Das europäische Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands
Diese Vorschläge sind weder singulär noch geschichtslos. Sie können sich vielmehr auf die programmatischen Erklärungen mehrerer linkssozialistischer Widerstandsgruppen beziehen, die zu Beginn der 1940er Jahre mit den zerstörerischen Normensystemen des Nationalstaats brachen und sich für eine Föderative Republik Europa aussprachen. Selbstverständlich können wir nicht bruchlos an ihren Visionen anknüpfen – dafür hat sich die Welt und hat sich Europa in den vergangenen 70 Jahren zu sehr verändert. Aber wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Europa von heute mit seinen Verelendungsprozessen und autoritären Strukturen das krasse Gegenteil dessen darstellt, wofür diese Widerstandsgruppen seinerzeit den Kampf gegen den Faschismus und das deutsch beherrschte Europa aufgenommen hatten. Wir werden an diesem Vermächtnis anknüpfen und versuchen, es mit neuem Leben zu füllen.
Im Mai 2013
UnterzeichnerInnen:
Karl Heinz Roth, Zissis Papadimitriou, Mathias Deichmann, Angelika Ebbinghaus, Lothar Peter, Peter Birke, Antonio Farina, Hanna Haupt, Roland Herzog, Wolfgang Hien, Andreas Kahrs, Gregor Kritidis, Marcel van der Linden, Norbert Meder, Gerhard Schäfer, Norbert Schepers, Jörg Wollenberg, …
[1] Dieser Aufruf basiert auf einer Flugschrift, die in Hamburg (Edition Nautilus) und Thessaloniki (Ekd. Nisídes) erscheint: Karl Heinz Roth / Zissis Papadimitriou: Die Katastrophe verhindern – Manifest für ein egalitäres Europa, August 2013, 128 Seiten.
Kommentare, Comment or Ping
Norbert Schepers
„Noch ein linker Aufruf: für ein egalitäres Europa“, im Blog von Tom Strohschneider, Chefredakteur vom Neuen Deutschland: http://www.neues-deutschland.de/artikel/822489.noch-ein-linker-aufruf-fuer-ein-egalitaeres-europa.html
Mai 27th, 2013
Jochen Müller Berlin
ich begrüße die Initiative für ein egalitäres Europa von ganzem Herzen. Die Analyse der Lage in Europa und der Ursachen bisheriger Fehlentwicklungen stimme ich zu, insbesondere den Bezug auf den Anschluss der DDR an die BRD. 1990 als ein Modellprojekt für den Umgang des von Deutschland angeführten Kerneuropa mit der europäischen Peripherie . Dem Vorschlag für ein europäisches » Netzwerk selbstbestimmt und selbstverantwortlich handelnder Initiativen« , die zu einer »Assoziation Egalitäres Europa« führen, gebührt volle Unterstützung..
Jetzt 82jährig, erinnere ich mich an die Wünsche und Hoffnungen, die wir jungen Menschen nach dem 2. Weltkrieg mit der Neugestaltung Europas verbanden. Sie sind aktueller denn je, und ich sehe sie in dem „Manifest“ ideenreich in aktuelle Aufgaben und Forderungen umgesetzt.. Es ist Zeit, dafür das notwenige Netzwerk wirksamer Initiativen zu schaffen. Eine Idee, für es Herz und Verstand vieler Menschen in ganz Europa zu gewinnen gilt.
Mit solidarischen Grüßen
Jochen Müller, Journalist, 10243 Berlin, Koppenstraße 66
Juni 7th, 2013